Offener Brief an den Oberbürgermeister der Stadt Offenbach
Mittwoch, 6. September 2017 | 21:20 Uhr
Am 23. September 2017 lädt das "Geistliche Zentrum Vozrozhdenie" zu einer Veranstaltung unter dem Motto "Zerstörung der Erbflüche". Der so genannte "Apostel" Vladimir Muntyan prädigt hat vor dort unter anderem über Wunderheilung zu prädigen.
Die Humanistische Gemeinschaft Hessen hat diesbezüglich bereits Kontakt zur Stadt Offenbach aufgenommen. Darüber hinaus hat nun auch die Humanistische Gemeinschaft Neu-Isenburg reagiert und den folgenden Offenen Brief veröffentlicht:
Hier das Original-PDF des Briefes öffnen | Werbeflyer der Veranstaltung
Offener Brief an die kommunale Verwaltung der Stadt Offenbach
Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Schneider,
mit Verwunderung und starken Bedenken haben wir, die Humanistischen Gemeinschaft Neu‐Isenburg als Ortsgemeinschaft innerhalb der Humanistischen Gemeinschaft Hessen K.d.ö.R., u.a. auch durch Offenbacher BürgerInnen, von der Massenveranstaltung des sogenannten »Apostels« Vladimir Muntyan vom »Geistlichen Zentrum Vozrozhdenie« Kenntnis erlangt. Die Stadt Offenbach beabsichtigt ihre Stadthalle am 23. September 2017 dazu zur Verfügung zu stellen.
Wir möchte Sie daher bitten uns die folgenden Fragen zeitnah schriftlich zu beantworten:
1. Waren Sie über diese Veranstaltung informiert?
2. Ist Ihnen das evangelikale und kreationistische, gegen den Geist der Aufklärung gerichtete Treiben des Herrn
Vladimir Muntyan und des »Geistlichen Zentrums Vozrozhdenie« bekannt, z.B. das Versprechen der Heilung
körperlicher Gebrechen durch Beten in Massenveranstaltungen?
3. Ist Ihnen bekannt, ob der angebliche Wunderheiler, der mit unmittelbarer Heilung körperlicher Gebrechen auf
seiner Bühne wirbt, überhaupt eine Genehmigung als Heilpraktiker besitzt? (Siehe hierzu auch Punkt 2. unserer
Bedenken unten.)
4. Haben Sie sich im Vorfeld mit diesem fragwürdigen Veranstaltungsprogramm bewusst auseinander gesetzt?
5. Lagen Ihnen im Vorfeld der Genehmigung dieser Veranstaltung (z.B. via Internetrecherche) Informationen
darüber vor, dass der sogenannte »Apostel« Vladimir Muntyan, in seinem Herkunftsland, der Ukraine, nicht nur
umstritten ist, sondern offenbar auch strafrechtlich im Fokus steht?
6. Haben Sie den Schutz der Bürger vor möglicher psychischer Ausbeutung von Krankheiten, Ängsten und Nöten
durch solche irrationalen Heilsversprechungen entsprechend bedacht?
7. Sind Sie der Meinung, dass solchen angeblichen Wunderheilern in ihrer Kommune eine öffentliche Plattform
geboten werden sollte?
8. Haben Sie Ihrer Verantwortung und Sorgfaltspflicht in Bezug auf die Verhinderung von Scharlatanerie und
möglichem Betrug in ausreichendem Maße Rechnung getragen?
Auch wenn die unmittelbare Verantwortung für die Genehmigung der Veranstaltung wohl beim Betreiber der
Stadthalle liegt, möchten wir Sie darauf aufmerksam machen, das aus Sicht der Öffentlichkeit der Eindruck einer
Duldung der Veranstaltung seitens der Stadtverwaltung entsteht.
Unsere Bedenken sind schwerwiegend:
1. Die Inhalte dieser Veranstaltung zeigen, wie es auch auf der Webseite des Veranstalters zu sehen ist, eindeutig
Formen des religiösen Fundamentalismus, wie man sie von Sekten kennt, die doch gerade in Offenbach
angesichts der bestehenden gesellschaftlichen Probleme nicht vertieft, sondern überwunden werden soll(t)en,
um ein spannungsfreies Miteinander in kultureller Vielfalt zu ermöglichen.
2. Einige Inhalte der Veranstaltung sind ferner fragwürdige medizinische Angebote, die jeder wissenschaftlichen
Redlichkeit widersprechen. Insbesondere ist das Durchführen angeblicher Heilungshandlungen (gerade in der
Öffentlichkeit), sofern es ohne Genehmigung geschieht, die Ausübung einer Tätigkeit als Heilpraktiker (siehe
Flyer‐Rückseite: Behauptete Heilung einer krebskranken Frau durch Beten). Dieser Flyer erweckt den Eindruck,
dass Herr Muntyan tatsächlich kranke Organe öffentlich auf der Bühne heilen kann. Die auf dem Flyer gemachten
Versprechungen wären in diesem Fall als Täuschung, Betrug und unlauterer Wettbewerb zu anzusehen. Wir werden parallel zu diesem offenen Brief eine entsprechende Anfrage an das kommunale
Ordnungsamtsamt stellen.
3. Zudem haben wir Sicherheitsbedenken angesichts der von Herrn Muntyan eingesetzten Hypnosetechniken. Im
Werbefilm auf der Webseite des Herrn Muntyan (siehe http://deu.vochurch.org/sermon/bibelkolleg‐berg‐moses-
2017‐tag‐7‐apostel‐vladimir‐muntyan/), werden viele Menschen ‐ auch ältere ‐ durch hypnotische Einwirkung in
Trance versetzt und lassen sich unkontrolliert rücklings auf die Bühne fallen, um rechtzeitig von Helfern
aufgefangen zu werden. Hier könnten auch Unfälle und Verletzungen auftreten. Risiken entstehen auch durch die
Hypnose selbst, wenn etwa das Zurückholen aus der Trance nicht vollständig gelingt. Zu fragen wäre also: Wer
haftet bei gesundheitlichen Schäden? Sind Mediziner für eine Erstversorgung vor Ort? Sind alle mit dem PKW
angereisten Teilnehmer nach der Trance‐Erfahrung noch fahrtauglich? Diese Fragen sind insofern zu priorisieren,
da zu vermuten ist, dass sich die Teilnehmer weder bewusst sind, noch aufgeklärt werden, dass hier eine
hypnotische Trance induziert wird. Es bliebe auch zu hinterfragen, ob und wie sichergestellt wird, dass alle
Teilnehmer volljährig sind, denn auch das geht aus den Veranstaltungsinformationen nicht hervor!
4. Die Stadt Offenbach unterstützt damit, obwohl das Arbeitsprinzip kommunaler Behörden notwendig auf
Rationalität und Fakten beruhen muss, dass die Irrationalität menschlichen Denkens und Verhaltens in unserer
Gesellschaft zunimmt, wo doch eigentlich nur unser demokratisches Wertesystem und fundierte
wissenschaftliche Bildung im öffentlichen Raum etwas zu suchen haben.
5. Aus unserer humanistischen Sicht versucht Herr Muntyan entgegen jeder Vernunft in unredlicher Art und
Weise die Ängste und Nöte der Menschen auszubeuten, um eine indoktrinierende evangelikale Missionierung
durchzuführen und um weitere Anhänger zu gewinnen. Das alles mit der nicht belastbaren impliziten
Behauptung, dass ein Wirkzusammenhang zwischen Beten und Heilung bestünde.
6. Mit dieser Veranstaltung werden ernsthaft kranke Menschen auf hochgradig unseriöse Weise in ihrem
irrationalen Glauben bestätigt, dass fachärztliche Hilfe falsch ist und ihr Glauben an eine Wunderheilung über die
Wissenschaft gestellt werden kann, weil die Medizin unfähig sei. Die harmlos wirkende Überzeugung geheilt
worden zu sein, hat mitunter schwerwiegende reale Konsequenzen für Betroffene, wenn daraufhin Arztbesuche
oder die Einnahme notwendiger Medikamente unterbleiben. Es gab schon Prozesse, weil Eltern versuchten die
tödliche Krankheit ihres Kindes durch Beten oder homöopathische Mittel zu »heilen« und die fachärztliche
Behandlung ablehnten.
Einige Beispiele:
»Globuli statt Antibiotika ‐ Siebenjähriger stirbt« unter:
https://www.welt.de/gesundheit/article165126740/Globuli‐statt‐Antibiotika‐Siebenjaehriger‐stirbt.html
»Homöopathie: Tod eines Kindes erschüttert Italien« unter:
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/76070/Homoeopathie‐Tod‐eines‐Kindes‐erschuettert‐Italien
»Skurrile und gefährliche Weltanschauungen: Wenn der Guru zum Diktator wird« unter:
http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/persoenlichkeit/tid‐33429/wenn‐der‐guru‐zum‐diktatorwird‐
die‐schlimmsten‐sekten‐der‐welt_aid_1096710.html
Ob homöopathische Mittel oder Beten oder esoterische Weltanschauung, die antiaufklärerische, irrationales
Denken fördernde und letztlich verdummende Wirkung in die Öffentlichkeit ist dieselbe. Das kann und darf keine
Unterstützung einer öffentlichen Kommune finden, die alleinig und sorgfältig unserem demokratischen
Wertesystem verpflichtet ist.
7. In einer Zeit, in der die Menschen zunehmend den populistischen Rattenfängern auf den Leim gehen, sind
solche Events kontraproduktiv, weil den Menschen der Sinn für die rationale Sicht auf die Realität immer mehr
verloren geht. Die damit einhergehende Abnahme an Bildung öffnet dann den Populisten mit ihren monokausalen
und unterkomplexen, also über Gebühr vereinfachten, Antworten Tür und Tor. Durch solche sinn‐ und
realitätswidrigen Wunder‐Veranstaltungen bleiben Bildung, Aufklärung, Skepsis und kritisches Denken in der
Bürgergesellschaft auf der Strecke.
8. Wunderglaube ist Aberglaube der übelsten Art, weil solch magische Weltsichten den Geist gerade
bildungsferner Menschen zusätzlich vernebeln und diese immer leichter in die Hände der Sekten und
Rattenfänger treibt ‐ ein gesellschaftspolitisch gefährliches Spiel mit der Naivität der Menschen. Wenn sich ein
selbsternannter Heiliger ‐ oder hier: »Apostel« so in der Öffentlichkeit präsentiert, dann zeigt das den eindeutigen
Sektencharakter seiner Organisation.
9. Wunder widersprechen den physikalisch grundlegenden Eigenschaften der Welt. Wunder wären ein Eingriff in
die buchhalterische Kausalitätsbilanz des Universums. Das grundlegende Gesetz von Ursache und Wirkung wäre
gestört. Wenn jemand wirklich die Macht hätte, mit Wundern in die Naturgegebenheiten einzugreifen, dann wäre
unser tägliches Leben von Willkür und Unberechenbarkeit geprägt. Wir könnten dann alle Naturwissenschaften
aufgeben. Niemand würde verhindern können, dass auch destruktive Menschen solche Wundergewalt hätten.
Stellen wir uns einmal vor, die Anhänger des radikalen Islamismus könnten Fluchwunder wirken und uns dadurch
Schaden zufügen. In so einem Universum würden auch Sie nicht existieren wollen. Genau mit solchen angeblich
existierenden Fluchwundern wirbt Herr Muntyan expressis verbis auf seinem Flyer: »Zerstörung der Erbflüche«.
Wir möchten Sie deshalb ausdrücklich bitten, zu bedenken, welche kontraproduktiven und letztlich antidemokratischen, sowie wissenschaftsfeindlichen Auswirkungen auf die/Ihre Bürgergesellschaft aus Events dieser Art resultieren können. Als säkulare Weltanschauungsgemeinschaft, die ihre geistigen und organisatorischen Wurzeln schon im Zeitalter der Aufklärung und in der Demokratiebewegung von 1848 hat, ist es uns ein zentrales Anliegen, unser Zusammenleben auf rationalen und realen Werten zu gründen, die ein gesellschaftliches Zusammenleben in kultureller Vielfalt ermöglichen, ohne ausgrenzende religiöse Absolutheitsansprüche und missionarische Bekehrungsversuche.
Wir fordern Sie deshalb hiermit auf, ihre öffentliche Unterstützung dieser, antiaufklärerischen und
massenhysterischen Veranstaltung noch einmal kritisch zu bewerten und bitten um Ihre schriftliche
Stellungnahme auf diesen öffentlichen Brief.
Wir wünschen uns wegen unserer o.g. Bedenken, dass Sie sich ‐ auch im Namen Ihrer Stadtbehörden ‐ öffentlich von dieser Veranstaltung zumindest distanzieren würden.
Mit freundlichen Grüßen
der Vorstand der Humanistischen Gemeinschaft Neu‐Isenburg,
Klaus Hofmann, 1. Vorsitzender und Michael Luft, 2. Vorsitzender
Frau Kora Kruse
Offenbacher Bürgerin